Auszüge aus dem Tagebuch

 
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Der Tagchagpuri

13. Oktober: Wir fahren in einem Tal, das sich etwa 40 Kilometer weit nach Süden öffnet und einen weiten Blick auf die vor uns liegende Landschaft erlaubt. Weit im Süden, am oberen Ende des Tals erhebt sich ein hoher schnee- und eisbedeckter über 6000 Meter hoher Berggipfel: Der Tagchagpuri.

Bei dem momentan optimalen Wetter können wir uns kaum vorstellen, dass eigentlich jederzeit der Winter beginnen könnte, es ist ja jetzt schon Mitte Oktober. Ein Wetterumschwung kann in wenigen Stunden kommen und uns das Leben sehr schwer machen. Sollen wir uns daher beeilen und möglichst schnell raus aus dem Chang Tang fahren? Oder ist das unnötige Panik und sollten wir stattdessen das gute Wetter noch so lange es möglich ist geniessen?
Das sonnige Wetter beeinflusst jedenfalls unsere kurz entschlossenen Änderung in unserem Routenablauf: Wenn wir schon derartig nahe am Tagchagpuri vorbeikommen werden, laut unserer Karte dürfte die Piste knapp sieben Kilometer am Fuss des Berges vorbeiführen, wenn das Wetter stimmt und wir noch genug Proviant für einen Bergtag haben, dann sollten wir die Möglichkeit auch nutzen, diesen Gipfel zu besteigen. Immerhin gilt dieser Berg als bisher unbestiegen, das motiviert zusätzlich.

14. Oktober: Die Kraft in den Beinen ist gut und reicht, um die Gipfelpyramide zu besteigen, diesmal wurde durch den Anmarsch noch nicht so viel Energie im weichen Schnee verbraucht. Unsere Akklimatisation an die Höhe ist auch erheblich besser als noch vor zwei Woche am Toze Kangri. Dafür ist unsere Haut im Gesicht durch Trockenheit, Kälte und die Sonne stark angegriffen und schmerzt vor allem bei kaltem Wind. Besonders Waltraud leidet darunter, da ihr Gesicht nicht auch noch von einem Vollbart geschützt ist. Die zur Verfügung stehende Sonnencreme und der mitgebrachte Lippenstift sind zwar im Dauereinsatz, nützen aber scheinbar nicht sehr viel. Wir haben jedoch unglaubliches Glück: Der Wind bleibt bis auf einzelne Böen erheblich sanfter als sonst üblich und die Sonne strahlt vom fast wolkenlosen Himmel. Alles scheint weiterhin optimal für den Gipfelsturm zu sein.

Ich bin hin und her gerissen. Die ganze Zeit habe ich die Berge entlang unseres Weges angeschaut, und mir gewünscht noch einmal einen dieser vergletscherten Riesen zu besteigen. Jetzt sind wir hier, und haben einen schönen Berg als Ziel gefunden. Dennoch fühle ich mich müde. Müde von den Strapazen der letzten Wochen, müde auch durch die schmerzhaften Hautverletzungen an meinem Ohr und an der Lippe, die einfach nicht heilen wollen. Ich horche in meinen Körper hinein: Reicht die Kraft für den beschwerlichen Aufstieg auf mindestens 6400 m Höhe? Fühle ich mich stark genug? Mit jedem weiteren Schritt der mich der steilen Gipfelpyramide näher bringt verschwinden die Zweifel. Ja, ich fühle mich stark, ich bin gut akklimatisiert und bei diesen idealen Bedingungen wird der Aufstieg bestimmt zu einem einmaligen Erlebnis. Entschlossen halte ich auf das Band an Steinen zu, das aus der Schneewand hervorragt. Dort hoffen wir gute Bedingungen für den Aufstieg zu finden.

Trotz der Steigeisen an den Sohlen und der Eispickel, die wir als Gehstütze nutzen, laufen wir im Zick-Zack die Eiswand hoch. Es ist mit 45° bis 60° einfach zu steil für eine gerade Gipfellinie, und zum anderen verhindern wir so, dass sich der oben Steigende direkt über dem unten Steigenden befindet. Nicht nur kleine Eisbrocken werden durch die Eispickel und Steigeisen herausgebrochen und fliegen nach unten, sondern auch die im Eis festgefrorenen Steinbrocken können sich lösen und sich zu gefährlichen Geschossen entwickeln. Jedenfalls sparen wir auf diese Weise auch Kraft und können in jeder unserer Spitzkehren kurz pausieren. Meter für Meter arbeiten wir uns voran, Stufe zu Stufe, von markantem Felsen zum nächsten. Das Tempo ist langsam, aber bei bestem Wetter sind die körperlichen Qualen nicht so hoch, wie auf dem stürmischen Grat des Toze Kangri. Auf Halber Strecke zum Gipfel legen wir noch eine kurze Pause mit Energieriegeln und warmem Kräutertee ein.

Ich gehe gerade voran, Tritt für Tritt arbeite ich mich gegen die Schwerkraft und die kleinen Eisrippen auf der Oberfläche stemmend voran, ganz in meinen Atem- und Schrittrhythmus vertieft. Zehn Schritte gehen, zehn Sekunden pausieren. Auf einmal wird es schlagartig einfacher zu gehen. Wo ist denn plötzlich das Gefälle, wo ist der Berg? Wenn man stundenlang am Steilhang war, eine Wand durchklettert ist und man sich an die Verzerrung der Welt und den ungewohnten Blick auf den seitlichen Horizont gewöhnt hat, dann erschrickt man natürlich, wenn all das Gewohnte plötzlich wegkippt und man auf dem flachen Bereich des Gipfels steht. Ich atme zweimal tief durch, ehe ich es so richtig begreife und rufe dann Waltraud zu, dass ich oben stehe.

Gemeinsam gehen wir die letzten fünfzehn Meter bis zur höchsten Erhebung auf diesem runden Kopf der Gipfelpyramide. Dort liegen auf einer Fläche von etwa zwei Quadratmetern einige Felsbrocken ohne Schneebedeckung. Von einer Gipfelmarkierung oder einem Steinmännchen sehen wir keine Spur. Wir sind wohl die ersten Menschen hier oben. Ein grosser Grund zur Freude und zum lauten Jubeln. Wir umarmen uns und reissen die Arme in den Himmel. Nach der ersten Gipfelfreude geht es an die obligatorische Datenerfassung: Die Messung der Höhe und die Aufnahme der exakten Koordinaten ist genauso wichtig wie das Aufstellen einer Steinpyramide am höchsten Punkt. Die einzelnen Steine für unsere kleine Gipfelpyramide lockere ich mit dem Eispickel. Das Gestein besteht aus Brekzien, also ehemaligen Fein- und Grobsedimenten einer Flusslandschaft, die im Laufe der Erdzeitalter in grössere Tiefen abtauchten, dort zu kompaktem Gestein verbacken wurden und dann durch die Tektonik wieder hochgehoben wurden, so hoch, dass sie jetzt auf 6430 Metern Höhe liegen.

Die Fernsicht ist phänomenal. Wir sehen im Südosten das Transhimalaya-Gebirge, können Gebiete entdecken, durch die wir 2005 radelten, haben freie Sicht auf das Karakorum-Gebirge im äussersten Westen und auf die Landschaft im Norden. Genau können wir erkennen, durch welche Täler und an welchen Seen vorbei wir in den nächsten Tagen fahren werden. Die Welt liegt uns zu Füssen. Der Horizont ist tatsächlich krumm – die Erde eine Kugel.

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