Auszüge aus dem Tagebuch

 
Xinjiang-Tibet Hwy  
Toze Kangri

Ins unbekannte Gelände des westlichen Chang Tang

26. September: Aus einer Entfernung von etwa einem halben Kilometer und etwa 100 Höhenmetern schauen wir auf das Ostufer des Lungma Co. Der türkisfarbene See zieht immer wieder unsere Blicke an. Die grasbedeckten Hügel, über die wir gerade fahren, schimmern im schrägen Abendlicht goldgelb. Eine schönere Farbharmonie kann ich mir nicht vorstellen. Selbst bei schlechtem Wetter, mit den grauen Wolkenvorhängen aus Graupeln und Schnee, kann man die klare Schönheit dieser Landschaft wahrnehmen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie vor der Kulisse der in Brauntönen leuchtenden Berge immer wieder die dunklen Wolkenfetzen aufreissen und den Blick auf den intensiv blauen Himmel freigeben. Ganz typisch für das Wetter im Chang Tang: Innerhalb von wenigen Minuten kann es umschlagen, und das ist dann auch immer von entsprechenden Temperaturänderungen begleitet.Die klare Weite der Landschaft ist ein zusätzlicher Eindruck, der sehr intensiv auf uns wirkt. Kilometerweit ist nichts zu erkennen, was dem Auge die Möglichkeit eines Grössenvergleichs oder einer räumlichen Tiefeneinschätzung gibt. Diese immense Raumtiefe ist dermassen faszinierend, dass wir uns kaum satt sehen können. Dieses intensive Gefühl, ein ganz kleiner Teil dieser riesigen Landschaft zu sein, wird uns noch die nächsten Wochen begleiten.

28. September: Plötzlich stehen wir mit unseren Fahrrädern am Ufer eines etwa 15 Meter breiten Flusses, dessen Oberfläche komplett mit rasch treibenden Eisschollen bedeckt ist. Der Fluss kommt aus einem Seitental von rechts und fliesst quer über die gesamte Ebene, auf der wir uns befinden. Wir sehen keine andere Alternative, als den Fluss zu überqueren. Ein erster Test mit dem langen Schneehering zeigt mir, dass das Flussbett direkt am Ufer in etwa 40 Zentimeter tief sein muss. Das Flussbett können wir aber durch das trübe Wasser nicht sehen, und es bleibt ungewiss, ob es tiefere Stellen geben wird. Da sollen wir durch? Die Vernunft beginnt zu protestieren. Die Suche nach einer geeigneten Stelle beleibt ergebnislos. Alle wichtigen und empfindlichen Gegenstände aus den kleinen Aussentaschen werden in den Jacken verstaut oder auf höheren Stellen am Fahrrad festgeschnallt. Besonders die die Ladeelektronik für die Batterien, das Solarpaneel und die Kameras werden sorgfältig neu verpackt. Wir wissen von früheren Flussdurchquerungen, dass die wasserdichten Ortlieb-Taschen das Fahrrad tragen und die Fahrradreifen daher ab einer Wassertiefe von etwa 50 Zentimetern keine Bodenberührung mehr besitzen. Der Anhänger schwimmt schon ab einer Wassertiefe von etwa 30 Zentimetern. Wenn das Fahrrad samt Anhänger schwimmt, wird es zu einer sehr schwer zu manövrierenden Masse. Die Strömung prallt auf die breite Querfläche und man hat aller grösste Mühen, sich selber noch auf den Beinen zu halten, geschweige denn, das Fahrrad auf das andere Ufer zu bekommen. Solche tiefe Flüsse durchquert man daher nie im rechten Winkel zum Ufer, sondern stets schräg in Fliessrichtung. Bei dem Fluss hier würde das jedoch bedeuten, dass wir eine deutlich längere Strecke in dem Eiswasser laufen müssten.

Nur mit Sandalen an den Füssen macht Waltraud den mutigen Anfang. Dafür filme ich sie, ebenfalls schon unten ohne im kalten Wind stehend. Das Vorderrad kracht durch die am Ufer klebende Eiskruste und verschwindet im gleichen Augenblick fast komplett unter der Wasseroberfläche. Schnell zieht sie das Hinterrad nach, damit das Fahrrad nicht vorne über kippt und im Eiswasser auf der Seite landet. Entschlossen macht sie einige schnelle grosse Schritte, muss aber alle Kraft aufwenden, um mit dem Fahrrad gegen die starke Strömung zu kämpfen. Nach etwa einer halben Minute hat sie das andere Ufer erreicht, steht aber noch im Fluss. Das Ufer ist eine senkrechte Wand mit einer festen Eiskruste auf Höhe der Wasseroberfläche. Waltraud hebt das Vorderrad komplett aus dem Fluss uns setzt es auf das Ufer, aber auf der Eiskruste findet sie keinen Halt, um das Rad komplett aus dem Wasser zu wuchten. Nach ewig erscheinenden Sekunden hat der Reifen endlich doch Griff und mit angezogenen Bremsen kann sie nun selber aufs trockene Ufer hochsteigen. Ich schaue dem Treiben bangend durch den Sucher der Filmkamera zu und hoffe, dass alle Taschen dicht bleiben. Vor allem die beiden Ortlieb-Rucksäcke zu beiden Seiten von Waltrauds Anhänger sind zur Hälfte unter der Flussoberfläche. Mit letzter Mühe zieht sie den restlichen Teil des Fahrrads und schliesslich den schweren Anhänger hoch aufs Ufer. Wenige Meter danach ist noch ein weiterer Flussarm zu durchqueren, der zwar nur etwa drei Meter breit ist aber trotzdem knietief. Also kann sie sich erst dahinter wieder die Füsse trocken rubbeln und warm anziehen.

1. Oktober: Es ist für uns immer wieder überraschend, wie wir bei Frost mühelos dort fahren können, wo es nachmittags am Vortrag noch als unpassierbar galt. In der Nacht hatte der Wind aus Osten aufgefrischt und einen erheblichen Wellengang auf dem Pur Co verursacht. Die Gischt hat die Uferkiesel gut durchfeuchtet. Dieser feuchte Kies ist jetzt zu einem festen Paket gefroren. Der Frost hat so direkt oberhalb des Spülsaums einen guten wenn auch schmalen Radweg geschaffen. Statt also auf dem Sand zu schieben, lenken wir die schweren Fahrräder auf dem nur etwa 30 Zentimeter breiten Kies-Streifen. Rechts von uns durchfeuchtet der Wellengang das Ufer so stark, dass es wieder zu weich fürs Fahren wird, links von uns ist trockener und damit loser Kies. Die Fahrt auf dem vereisten Uferstreifen endet leider bereits nach kurzer Zeit am Nordufer, wo eine Felswand abrupt in den See übergeht.

Da wir heute schon um 4 Uhr 30 aufgestanden und um 6 Uhr losgefahren sind, können wir den Sonnenaufgang über dem See in seiner vollen Schönheit bestaunen. Goldgelb glitzern die kleinen Wellenkämme auf dem Pur Co, die fernen Eisfelder des Toze Kangri sind bereits grell beleuchtet und die Luft ist so unendlich klar, dass wir jede Einschätzung für den dreidimensionalen Raum vor uns verlieren.

2. Oktober: Der grosse Fluss, der auch auf unserer topografischen Karte eingezeichnet ist, führt Wasser. Das Glitzern des Abendlichts auf der Oberfläche können wir vom Kamm des Hügels gut erkennen. Da es bergab geht, sind wir zuversichtlich, die fünf Kilometer dorthin bis zum Sonnenuntergang auch noch fahrend zu schaffen. Als wir den Fluss erreichen umgibt uns eine eiskalte Stimmung: Der Wind pfeift kalt durch das enge Tal, das bereits im abendlichen Schatten liegt. Auf dem schnell dahinfliessenden Fluss treibt ein dichter Teppich an Eisschollen, die Ufer sind dick mit Eis gepanzert. Durch das trübe Wasser können wir die Tiefe des Flusses nicht abschätzen. Diesen Fluss müssen wir noch überqueren! Stellt sich nur die Frage, ob heute Abend oder morgen früh. Wir entscheiden uns für letzte Variante und bauen kurz nach Sonnenuntergang die Zelte auf dem Kiesufer auf.

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