Auszüge aus dem Tagebuch

 
Toze Kangri  
Tagchagpuri

Auf zum Aru Basin

8. Oktober: Die Sonne scheint von einem fast wolkenlosen Himmel und nach der erfolgreichen Bergtour freuen wir uns auf die nun folgenden 500 Kilometer, die wir noch durch das westliche Chang Tang radeln werden. Unser nächstes Ziel ist die Region um den Memar Co und den Aru Co. Die Region soll landschaftlich besonders beeindruckend sein und reich an Wildtieren.

Gegen Mittag kämpfen wir gegen heftige Sturmböen, die grosse Mengen an Sand und Staub aus den weiten Ebenen des Chang Tang mit sich führen. Waltraud und ich arbeiten uns seit Stunden nach Südwesten. Stur halten wir auf die in der Ferne sichtbare Felspyramide zu und reden kaum miteinander. Jeder ist mit seinen Gedanken und der rauen Landschaft alleine.

9. Oktober: Noch am Vormittag erreichen wir einen kleinen Salzwassersee, an dessen Ufer wir uns nach Süden wenden. Aber am Rand des Sees liegen ausgedehnte Salzlehmflächen, die für die Weiterfahrt reizen. Die weissen Salzlehmflächen sind hart wie Beton und damit eine fantastische Oberfläche für unsere Fahrradreifen. Selbst die sandigen, mit Gras bewachsenen Bereiche, mit denen die Salzfläche immer wieder mosaikartig durchsetzt ist, lassen sich ordentlich befahren. Wir können hier tatsächlich über mehrere Kilometer mal wieder Geschwindigkeiten im zweistelligen Bereich erreichen, etwas das wir seit vielen Tagen des langsamen Voranquälens nicht mehr erlebten. Welch ein Fahrspass bei sonnigem Wetter und grandioser Landschaftskulisse. Selbst als wir auf dem Kiesbett eines kleinen Bachs einen sanften Hang hochfahren, kommen wir noch schnell voran. Das feuchte Bachbett ist noch fest im Griff des Frostes. Der Übergang ins nächste Flusssystem ist kaum zu sehen, nach nur wenigen Metern finden wir den nächsten Bach mit einem Kiesbett, das nun nach Westen ausgerichtet ist. Dem folgen wir für die nächsten Kilometer.

Plötzlich entdecken wir eine Fahrspur von einem motorisierten Fahrzeug, wahrscheinlich ein Kleinlaster von den Nomaden der Region. Die Fahrspur ist jedoch an vielen Stellen kaputt oder überwachsen was darauf weist, dass diese Spur schon sehr lange nicht mehr genutzt wird. Sie führt jedoch in die Richtung, in die wir fahren wollen, und das ist schon einmal ein grosser Gewinn. Das fahren ohne Weg und ohne Fahrspur ist recht anstrengend. Anstrengend nicht nur körperlich wegen der häufig wechselnden Oberflächenbeschaffenheiten, sondern auch geistig, da man ständig neu überlegen muss, wie genau der zu fahrende Kurs realisiert werden kann. Rechts vorbei an der grasbewachsenen Stelle, links vorbei? Den Salzsumpf umgehen, oder sollen wir probieren durchzufahren? Oben auf der Schotterterrasse, oder doch lieber auf dem Feinkies des Flusses? Welcher Erosionsrinne folgen wir, um über einen Hügel ins nächste Talsystem zu gelangen? Wo ist die beste Möglichkeit einen Bach zu durchqueren – kann ich fahren, oder werde ich einbrechen und schieben müssen? Dementsprechend bedeutet es für uns eine gewisse geistige Entspannung, wenn wir uns für eine Weile keine Gedanken darüber machen müssen, welche Route wir einschlagen müssen. Wir haben in diesem Moment wieder mehr Freiheiten, an andere Dinge zu denken, zum Beispiel ans Filmen und Fotografieren. Also, auf nach Süden, Richtung Aru Co!

Panorama mit Memar Gebirge und Ngamong Co.

10. Oktober: Im fernen Süden, etwa 15 Kilometer von hier, erblicken wir eine weite Ebene und den im blassblauen Dunst schimmernden Memar Co. Rechts davon führt die weisse Mauer des Memar-Gebirges auch nach Süden. So ist diese Ebene um dem Memar Co gut geschützt vor den starken Westwinden, sie liegt im Niederschlagsschatten der hohen Berge und ist daher im Winter grösstenteils schneefrei. Diese Faktoren begünstigen eine hohe natürliche Wilddichte. Innerhalb des Chang Tang gibt es ähnlich wie in der ostafrikanischen Serengeti grosse Tierwanderungen von den Sommergebieten auf den über 5000 Metern gelegenen Hochflächen zu den geschützteren Wintergebieten, wie zum Beispiel der Aru Co Region. Wir sind sehr gespannt, was wir dort in den nächsten Tagen an Wildtieren beobachten werden können.Wir erreichen die weite Ebene etwa eine halbe Stunde später.

Als erstes fällt uns das verlassene Lehmhaus und der runde Kral direkt neben der Fahrspur auf. Die Nomaden werden durch chinesische Fördermassnahmen immer mehr zur Sesshaftigkeit angeregt. Früher wohnten sie in Zelten aus schwerer relativ winddichter Yakwolle, heute wohnen sie in chinesischen Einheitshütten aus Lehmziegeln und mit Holzdach. Damit sind die Menschen beim Bau und Reparaturen auf fremde Baumaterialien angewiesen, die es in der Region nicht gibt. Zudem existiert in den Lehmhütten kein so angenehmes Innenklima wie in den Zelten, vor allem wenn man an die Befeuerung des Ofens mit mit Ziegen- und Yakdung denkt. Immerhin haben diese Nomaden hier noch nicht die buddhistische Tradition aufgegeben, neben ihrem Gebäude eine kleine Stupa und einen Manisteinhaufen zu errichten. Manisteine sind Natursteine oder gebrannte Lehmplatten, in die fromme Sprüche geritzt werden und die auf eigens dafür hergerichteten Häufen gelegt werden.

Als zweites entdecken wir drei grosse Rollen Drahtzaun. Zaun im Chang Tang! Die Gerüchte, die wir schon im Vorfeld der Reise über die neuesten chinesischen Methoden der Steigerung der Fleischproduktion hörten, scheinen wahr zu sein. Schon einen Kilometer hinter dem Haus treffen wir auf einen kilometerweit durch die Landschaft gezogenen Zaun mit oben aufliegendem Stacheldraht. Das Chang Tang Naturparadies ist höchst gefährdet! Durch die Einzäunung sind die Wildtiere als vermeidliche Konkurrenten der Haustiere vorerst ausgegrenzt und das Management der Haustierherden wird bequemer. Aber zu welchem Preis? Die Überweidung kennt letztendlich keinen Gewinner, nur Verlierer. Auch die Nomaden werden nach wenigen Jahren feststellen, dass man sich für das schnelle Geld auf dem chinesischen Fleischmarkt keine neuen Weiden kaufen kann. Die Natur ist limitiert.
Wir sind sehr deprimiert darüber, was wir hier sehen, sind doch die negativen Begleiterscheinungen schon bekannt aus anderen Weltregionen, wie in Argentinien, Australien oder Namibia. In der grenzenlosen Weite des Chang Tang, eines der wirklich letzten grossen Naturparadiese der Erde, müssen wir ein Metalltor öffnen, um auf unserer Fahrspur weiterzukommen.


Weiter in Richtung Westen

12. Oktober: Heute müssen wir über das zu unserer Rechten liegende Gebirge auf die andere Seite in eine Ebene, die nach Westen ausgerichtet ist. Ein letzter wehmütiger Blick an die hinter uns liegende Landschaft mit dem schönen Aru Co, dann arbeiten wir uns hangaufwärts. Die Piste führt zwischen zwei drohend anmutenden Felswänden in eine enge Kerbe des Gebirges hinein. Die im Osten stehende Sonne scheint direkt in dieses Tal und erweckt so den Eindruck, als würde das ein angenehmer und gemütlicher Tag. Aber im Tal herrscht noch der strenge Nachtfrost und kein Geräusch ausser dem Wind ist zu hören. Fast schon unheimlich kommt mir das Tal vor, da sich mir zu beiden Seiten die steilen Wände meines Beobachtungsfeldes entziehen. Der Pistenverlauf nimmt keine Rücksicht auf mit Muskelkraft betriebene Fahrzeuge: Die zu erkennende Fahrspur führt häufig direkt im Bachbett oder über die Grobschotterflächen, was uns zu vielen Passagen über oder durch den Bach zwingt, je nachdem ob Eis oder Wasser im Bach zu finden ist. Nach etwa einer Stunde schwerer Schiebearbeit erreichen wir die Passhöhe auf 5240 Meter Höhe.

Direkt an einer Weggabelung steht wieder eine Lehmhütte, ein grosses Sommerzelt aus Baumwolle und ein blauer Kleinlaster der chinesischen Automarke Dong Feng (Ostwind), so wie wir es bei anderen Nomaden auch schon gesehen haben. Einzig die rote Fahne auf einer langen Holzstange irritiert uns etwas. Sind das womöglich irgendwelche chinesischen Aufpasser für das Gebiet? Schon bei der Annäherung an die Weggabelung kamen fünf Personen aus der Hütte und beobachteten uns. Jetzt stehen schon acht Personen dicht gedrängt an der Mauer des Lehmhauses und wollen die komischen buntgekleideten Figuren sehen, die auf Fahrrädern den Hang herunter kamen. Aber ich erkenne auch, dass nur Tibeter in ihrer traditionellen Bekleidung und mit ihren typischen braun gebrannten Gesichtszügen vor der Hütte stehen, also keine Chinesen. Kurzentschlossen fahren wir auf die Nomadenfamilie zu und legen die Mountainbikes neben der Hütte auf den Boden. Die tibetischen Grussworte "Taschi delek" spreche ich inzwischen so aus, dass sie verstanden wird. Die Begrüssung wird mit den gleichen Worten erwidert und die Gesichtszüge lockern sich auch bei den Nomaden auf. Die rote Fahne, die uns zunächst irritierte, entpuppt sich schnell als einzelne grosse, rote Gebetsfahne. Auf meine Frage nach der Richtung zur Siedlung Zapuk und mit einer fragenden Handbewegung auf die beiden Pisten zeigend, bekomme ich als Antwort die linke der beiden Fahrspuren gezeigt. Damit wissen wir jetzt, wie wir weiter fahren werden.
Noch während wir uns bedanken bekommen wir mit eindeutigen Handbewegungen und Gestiken deutlich gemacht, dass wir zum Tee eingeladen sind, natürlich zum tibetischen Buttertee. Gerne nehmen wir das an. Die kleine Lehmhütte ist für die zehn Personen, die nun mit hineindrängen, recht eng. Trotzdem ist es gemütlich warm. Vor allem halten die Mauern den starken Westwind aussen vor dem schweren Türvorhang aus Yak-Wolle – es ist ungewohnt still auf einmal. In der Mitte des Raums steht der kleine Ofen aus Gusseisen, der mit Ziegendung befeuert wird. Vom Ofen aus führt das Abgasrohr nicht direkt zur Zimmerdecke, sondern waagrecht für einen halben Meter knapp über dem Boden und macht dann erst eine rechtwinklige Biegung zum Dach. Der waagrechte Teil des Abgasrohrs besitzt ein quadratisches Querprofil, wodurch man auf der Oberseite alle Töpfe, Teekessel oder Essnäpfe warm halten kann. Somit steht der warme Tee schon bereit.

Häufig ist es dabei üblich, seine eigene Tasse mit zur Einladung zu bringen. Tibeter reisen immer mit ihrer Tsampa- und Teeschale im Gepäck. So hole ich noch schnell die Deckel unserer beiden Thermoskannen von den Fahrrädern. Der tibetische Buttertee ist sehr gut, wärmt alle kalten und müden Körperregionen, gibt wegen seines Fettgehalts auch neue Energie und ist auch wegen des leichten Salzgehaltes das wohl ideale Getränk für die grossen Höhen. Mit ranziger Butter, wie es in Europa gerne behauptet wird, hat der tibetische Buttertee nichts zu tun. Die Überraschung bei der Teestunde ist unsere Spiegelreflexkamera mit dem grossen Display auf der Rückseite. Zuerst fotografiere ich Waltraud beim Teetrinken und zeige das entstandene Foto den Familienmitgliedern, dann nimmt Waltraud mich auf und zeigt das Ergebnis ebenfalls herum. Schnell ist der Auslöseknopf und das Prinzip des Motivsuchens mit dem Okular erklärt, und schon fotografieren sich die Tibeter gegenseitig. Die Tibeter lachen über ihre Fotos auf den entstandenen Schnappschüssen. Trotz des kargen und entbehrungsreichen Lebens in über 5000 Meter Höhe haben diese Menschen ihre Gastfreundschaft und ihre Lebensfreude, besonders aber ihren Humor nicht verloren. Ich würde eher sogar behaupten, dass sie aus der grandiosen Naturlandschaft und den strengen Regeln der Natur vom Werden und Vergehen ihre Freunde am Leben erst schöpfen.

Die Krönung der Gastfreundschaft ist dann das leckere Essen, was Waltraud und ich angeboten bekommen. Zunächst werden wir gebeten, auch unseren eigenen Essnapf zu holen, der dann gefüllt wird mit warmem, gezuckerten Reis und frischem Yak-Sahneyoghurt oben drauf. Ernährungsphysiologisch ist diese bei uns zu Hause sicherlich ungewöhnliche Kombination ideal für körperliche Aktivitäten in grossen Höhen: Viele Kohlenhydrate in Form von kurz- und langkettigen Molekülen, viele Proteine und ein geringer Fettgehalt.

Toze Kangri  
Tagchagpuri