Auszüge aus dem Tagebuch

 
Chang Tang  
Aru Basin

Bergsteigen am Toze Kangri

Den Traum, einen hohen, gletscherbedeckten Berg zu besteigen hatte ich schon länger. Aber nicht einfach so, nicht im Gänsemarsch einer geführten Gruppe, nicht dort, wo Lager und Route markiert und vorgegeben sind. Nein, den Berg selbst erschließen, die Route und die Lagerplätze wählen wie es geeignet erscheint, die Ruhe des Berges intensiv in sich aufnehmen, das sind meine Ziele und Ideen. Dementsprechend üben die 6000er des Chang Tang eine enorme Faszination auf mich aus. Sie sind in der Regel technisch einfach zu besteigen, und kommen auf Grund ihrer abgeschiedenen Lage meinem Ideal sehr nahe. Die Herausforderung einer Besteigung fängt hier schon bei der Logistik der Anreise an, denn es führen keine Straßen zu diesen Bergen. Die Reise zum und vom Berg wird somit gleichwertiger Bestandteil der Tour, der Erfolg am Gipfel ist nicht mehr alleinig wichtig.

3. Oktober: Als Waltraud auch das Basislager erreicht, bauen wir unser rotes Zelt auf. Unser GPS-Empfänger offenbart die Höhe unseres Lagers: 5340 Meter. Auch wenn es jetzt am Nachmittag an diesem windgeschützten Ort sehr angenehm erscheinen mag, dürfen wir nicht vergessen, dass die Nähe zu solch einer grossen Eisfläche oft mit starken Fallwinden verbunden ist. Diese Winde können durchaus auch aus verschiedenen Richtungen gleichzeitig auf das Zelt einstürmen und die Verankerungen mit den Heringen lockern. Damit uns das nicht passiert, während wir oben am Berg sind, sichern wir alle zehn Abspannleinen nicht nur mit Heringen, sondern auch mit grossen Steinblöcken. Jetzt können nur noch die Leinen reissen. Ausserdem werden die snowflaps dicht mit den reichlich vorhandenen Flusskieseln beschwert.
Schnell ist das Zeltlager vollständig eingerichtet, die Isomatten aufgeblasen und die Schlafsäcke in der Sonne ausgebreitet. Nach einer kurzen Pause mit unserem Energiedrink sortieren wir dann die Ausrüstung. Zum einen müssen die Bergsteigerutensilien ausgepackt, noch mal auf ihre Funktionsfähigkeit durchgeschaut, und für den nächsten Tag zurecht gelegt werden, zum anderen möchte ich Klarheit über den gesamten noch vorhandenen Proviant haben.

4. Oktober: Die Nacht ist kurz. Schon um fünf Uhr morgens stehen wir auf, um mit dem ersten Sonnenlicht loszulaufen. Es ist mindestens minus zehn Grad, so genau wissen wir das nicht, weil wir vergessen hatten, das Thermometer vor das Zelt zu legen. Mühsam schälen wir uns aus den Schlafsäcken und ziehen uns an. Ausgerechnet heute spinnt der Kocher und feuert nur auf Sparflamme, was zu einer unnötigen Verzögerung des Frühstücks führt. Die zwei Liter Wasser kochen nicht wie am Anfang der Tour in niedrigerer Höhe in elf Minuten, sondern jetzt nach etwa 20 Minuten.
Gut gegen die Kälte geschützt, die schweren Stiefel an den Füssen und den Rucksack mit Steigeisen, Pickel, Seil, Karabinern, Thermoskanne, Imbiss, Stativ sowie der Kameraausrüstung gefüllt, machen wir uns mit einer Stunde Verspätung endlich auf den Weg. Dieser Zeitverlust am Morgen soll sich später leider rächen. Jetzt gibt es jedenfalls erst einmal kein Halten mehr – die Motivation, bis zum Gipfel zu kommen ist riesig. Dennoch ist in uns auch eine gewisse Anspannung: Wird es wirklich so einfach werden, wie es gestern auf der kurzen Erkundungstour den Anschein hatte? Werden wir genug Zeit haben? Werden wir womöglich das Seil benutzen müssen? Zudem spüren wir auch einen gewissen Erfolgsdruck – schliesslich sind wir die ersten Menschen hier am Berg und werden womöglich nach der Rückkehr auch am Gipfelerfolg gemessen werden.

… 98, 99, 100. Hundert Schritte ich, hundert Schritte er, hundert Schritte ich, und so weiter. Bis zum Anstieg zum Südwestgrat müssen wir uns durch den verharschten Schnee des Plateaugletschers laufen. Es ist anstrengend. Teilweise breche ich knietief durch die etwa vier Zentimeter dicke feste Schneeschicht. Immer wieder. Sind es noch 500 Meter oder gar ein Kilometer? Ich kann die Entfernung nicht abschätzen. Mein Kopf ist leer. Ich konzentriere mich auf den Atemrhythmus und das Zählen der Schritte, denn nach hundert Schritten habe ich eine kleine Pause und kann in der Spur laufen. Das macht viel aus. Ich muss aber dranbleiben, denn nach wenigen Minuten sind die Spuren zugeweht mit Pulverschnee.
Nach endlos erscheinender Zeit ist der Anstieg zum Gipfelgrat erreicht. Hier ist der Schnee fest gepresst und wir können jetzt mit den Steigeisen gut laufen. Dafür wird es plötzlich steil und ich merke, wie meinen Beinen die Schnellkraft fehlt, hier zügig berauf zu laufen. Ein paar Schritte, dann Pause, ein paar Schritte… Ich muss weiter. Jetzt nicht lange stehen bleiben. Mir geht es gut, keine Probleme mit der Höhe, ich fühle mich eigentlich stark. Nur die Beine sind langsamer als gewohnt. Weiter, weiter. Eine Windböe erfasst mich und drückt mich fast zu Boden. Feines Schneepulver wird mir ins Gesicht geweht. Ich muss vorsichtig sein, hier auf dem Grat. Das GPS verrät mir, dass es nur noch ein Kilometer bis zum Gipfel ist. Ein Kilometer. Mir ist das Gefühl für Distanzen und Zeit völlig verloren gegangen. Wie lange habe ich bis hierher gebraucht? Wie lange werde ich noch brauchen, bis oben? Ich bin zu träge, um meine Uhr aus der Jacke zu kramen. Ein Kilometer noch, vielleicht noch 100 Höhenmeter. Immer weiter. Wieder kommt eine Sturmböe und treibt feinen Schnee vor sich her.
Auf einmal ist es flach. Der Südwestgipfel ist erreicht, es ist 14 Uhr 30. Eigentlich ist es kein ordentlicher Gipfel. Für einen Moment bin ich enttäuscht. Wo genau ist der höchste Punkt? Es ist ein grosser, breiter Plateaugipfel. Langsam löst sich die Anspannung, Freude kommt auf. Wir haben es tatsächlich geschafft! Noch nie war jemand hier oben, aber das interessiert mich in diesem Moment eigentlich nicht. Ich setze meinen Rucksack ab und packe das Antilopengehörn aus, das ich vor ein paar Tagen in der Ebene fand. Es soll auf dem Gipfel verbleiben. Wir stecken es in den Schnee und drücken es fest. Skurril sieht es aus, hier zwei Chiruhörner aus dem Schnee ragen zu sehen. Danach nehmen wir die obligatorischen Höhenmessungen per GPS vor: An der gleichen Stelle zeigt eines der Geräte 6366 Meter an, das andere 6369 Meter.

6. Oktober: Der Tag beginnt mit Nebel und Schneetreiben. Keine guten Voraussetzungen für einen Gipfelsturm. Dennoch machen wir uns erneut auf den Weg, diesmal zum Nordostgipfel des Toze Kangri.

Der Wind lässt ab Mittag auch immer stärker nach, sodass weniger aufgewirbelter Schnee die Sicht versperrt. Allein die steile Westflanke, der wir immer näher kommen steht jetzt noch drohend zwischen uns und dem Gipfelglück. Wir schätzen, dass der steile Aufstieg in etwa einer Stunde zu schaffen sein sollte. Nur müssen wir erst noch bis dorthin durch den tiefen Schnee spuren.

Schliesslich stehen wir an der steilen Wand und ziehen die Steigeisen an. Inzwischen beherrschen wir auch die wenigen Handgriffe, bis diese fest an die Bergstiefel geschnallt und festgezogen sind. Damit kommen wir die steile Wand spielend hoch. Der Schnee ist hier vom Winddruck so fest gepresst, dass man nicht mehr einbricht. Dafür ist es so steil, dass wir die Eispickel als Gehhilfe und Sicherung verwenden. Stufe um Stufe geht es hoch, mühsam für die Beinmuskeln und die Lunge zugleich. Der Hang ist mit 40° bis 45° nicht übermässig steil, sodass wir auch ohne Seil sicher gehen können. Dennoch müssen wir uns konzentrieren, denn ein unachtsamer Schritt, und ein unsicherer Halt können schnell zum Abrutschen führen. Es ist daher auch wichtig, dass wir nicht zu eng und nicht in direkter Linie hintereinander klettern, um durch herabfallende Schneebrocken, oder durch ein Abrutschen die Nachfolgenden nicht unnötig gefährden. Es sind wahrscheinlich 300 Höhenmeter, die wir bewältigt müssen.

Der Jubel hält sich in Grenzen, als wir um 14 Uhr 45 auf dem Nordostgipfel stehen, schon allein wegen des starken Windes auf 6371 Meter Höhe, der uns kaum aufrecht stehen lässt. Der breite Nordgipfel ist laut unserer GPS-Messungen um fünf Meter höher als der Südwestgipfel. Allerdings liegen diese fünf Meter innerhalb des Messfehlers des GPS-Gerätes. Damit können wir nicht mit Sicherheit sagen, welcher der beiden Gipfel nun wirklich der höchste ist. Vielmehr liefern wir mit den so nah beieinander liegenden Messwerten genug Stoff für die Diskussion der nächsten Jahre, welcher der Toze Kangri Gipfel denn nun wirklich der Höchste sei. In diesem Augenblick ist uns das egal, weil wir beide höchsten Gipfel bestiegen haben, und damit die Erstbesteigung auch klar für uns beanspruchen können. Auf dem Gipfel hinterlassen wir das Gleiche, was Waltraud auch schon am Südgipfel im Eis verankert hatte: Ich schlage mit dem Pickel ein kleines Loch in das Eis und stecke ein Chiru-Horn hinein. Mit Schnee und etwas Tee, der schnell zu Eis festfriert, verankere ich es. Damit das Ambiente zur Landschaft und zum Land passt, aber auch als unser persönlicher Beitrag zum Protest gegen die chinesische Besetzung Tibets, ist an dem Chiru-Horn eine tibetische Nationalflagge fixiert. Wie lange der Wind braucht, um das Textil von den beiden Kabelbindern zu reisen, ist uns egal. Wenn die Flagge Spielball des Sturms über dem Chang Tang wird, ist die Flagge dort, wo sie hingehört: In Tibet.

Chang Tang  
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